Stadtgeschichte Borghorst
Als Gründungsjahr für das freiweltlich-adlige Fräulein-Stift Borghorst wird das Jahr 968 angenommen. Die Kenntnisse, die die Geschichte über die frühe Zeit des Stifts besitzt, beruhen wesentlich auf drei Urkunden von 968, 974 und 989. Zwar ist die lediglich in einer Abschrift des 16. Jahrhunderts vorhandene Gründungsurkunde inzwischen von der Forschung als Fälschung erkannt worden. Diese Abschrift der angeblichen Gründungsurkunde, die sonst nirgends erwähnt worden war, wurde vom Prokurator der Borghorster Äbtissin Jakoba von Tecklenburg (1533 - 1563) der erzbischöflichen Kanzlei in Magdeburg zur Bestätigung vorgelegt. Offenbar war man dieser Abschrift gegenüber schon damals skeptisch und verlangte die Vorlage der Originalurkunde, die daraufhin nicht beigebracht werden konnte. Die Wissenschaft entlarvte die Abschrift später anhand der Verwendung von bestimmten Floskeln usw. als Text des 16. Jahrhunderts, der die Inhalte der beiden späteren Urkunden von 974 und 989 geschickt verknüpft hatte. Außerdem ist historisch erwiesen, daß Otto I., der die Urkunde angeblich am 23. Oktober 968 ausgestellt haben soll, sich um diese Zeit gar nicht in Deutschland, sondern in Italien aufhielt. Aber trotz des Nachweises der Fälschung für diese Urkunde besteht wohl kaum ein Zweifel daran, daß das Jahr 968 oder zumindest dieser Zeitraum für die Gründung anzunehmen ist. Dies ergibt sich auch dadurch, daß in den Folgeurkunden von 974, ausgefertigt von Otto II., und von 989, bei seiner Gründung ausgestellt von Otto III., bestätigt wird, daß das Stift unter den speziellen Schutz Kaiser Ottos gestellt und dem von ihm neugegründeten Erzbistum Magdeburg angegliedert wurde. Es scheint also seine Richtigkeit zu haben mit 968. So konnte Borghorst 1968 getrost und mit gutem Gewissen seine Jahrtausendfeier abhalten.
Im 9. und 10. Jahrhundert wurden im Münsterland und in Ostwestfalen eine ganze Reihe von Stiften gegründet. Diese freiweltlich-adligen Stifte, deren Konstitutionen zumeist auf den auf der Synode zu Aachen 816 aufgestellten Regeln beruhten, waren zwar Rom ein Dorn im Auge, das nur regelrechte Klöster anerkennen wollte, aber es scheint, daß diese Institutionen den Bedürfnissen der mittelalterlichen Gesellschaft so sehr entsprachen, daß sie sich auch gegen die Interessen Roms durchzusetzen vermochten, das wohl keine rechte Handhabe gegen die Stifte hatte, die sicher im übrigen auf ebenso frühen Ursprüngen religiösen gemeinschaftlichen Lebens zurückgehen wie die Klöster. Gegründet wurde das Stift Borghorst von der Gräfin Bertha, Witwe des Grafen Bernhard von Borchorst und deren Tochter Hedwig, die dann die erste Äbtissin wurde. Daß das Stift nicht Münster unterstellt wurde, scheint sich auf eine Verwandtschaft der Gräfin Bertha mit dem ersten Erzbischof von Magdeburg, Adalbert, zu gründen, der vielleicht ihr Neffe war. Beide haben wohl auch enge, eventuell verwandtschaftliche Beziehungen zum sächsischen Kaiserhaus gehabt.
In der Folgezeit geschah dann die Umgestaltung der gräflichen Burg zum Stift, die für den Gottesdienst erforderliche Ausstattung und der Erwerb von Reliquien. Für den 22. April 969 ist die Translation u. a. der Heiligen Cosmas und Damian, Nikomedes und Mauritius überliefert. Die besondere Verehrung bestimmter Heiliger an verschiedenen Orten deutet immer auch auf enge Beziehungen dieser Orte oder maßgeblicher Personen untereinander hin. Mauritius war der Patron des Magdeburger Doms. Die Heiligen Cosmas und Damian und der hl. Laurentius, Patron des Kirchspiels Borghorst, wurden in der sächsischen Kaiserfamilie besonders verehrt. Es ist anzunehmen, daß auch die Nikomedesreliquien durch Vermittlung der Ottonen - vielleicht von Mainz - nach Borghorst gelangt sind. Nikomedes war zunächst der Titelheilige des Stifts, die Stiftskirche, die ihm ebenfalls geweiht wurde, scheint doch erst im Laufe späterer Jahre errichtet worden zu sein. Genauere Daten sind weder urkundlich noch baugeschichtlich dafür auszumachen. Als Pfarrkirche wird sie 1245 erstmalig erwähnt. Nach dem Tode der Gräfin Bertha 988 kam es zu Erbstreitigkeiten, da Berthas Tochter Berteida aus deren erster Ehe mit dem Grafen Liutbert die Erbschaft ihres Vaters beanspruchte und sich einen Teil des Stiftsbesitzes als vermeintliches Erbteil ihrer Mutter gewaltsam aneignete. Otto III. entschied am 9. Februar 989 diesen Streit salomonisch und legte genau fest, was Berteida als Eigentum zukommen sollte und was sie der Kirche zurückgeben mußte.
Da die Entfernung zum Erzbistum Magdeburg, dem das Stift unterstellt war, doch recht beträchtlich war, wurde zum unmittelbaren Schutz der Stiftsvogt eingesetzt. Der Vogt hatte, wenn es nötig sein sollte auch mit militärischen Mitteln, für die Sicherheit sowohl der Insassen als auch des Besitzes sowie der Hintersassen des Stifts einzustehen, erhielt dafür natürlich Rechte auf Abgaben und Dienstleistungen. Erster namentlich genannter Stiftsvogt war Graf Wichmann aus der Familie der Billunger, die sowohl den Borghorstern als auch den sächsischen Kaisern verwandtschaftlich verbunden gewesen zu sein scheint. Er war gleichzeitig Vogt des Nachbarstifts Metelen und übte landesherrliche Rechte in einigen Gebieten des Niederrheins aus. Eine Nachbargräfin sah deshalb ihren eigenen Besitz von ihm umstellt und bedroht. Daher ließ sie, die in der Sage Adele, "die Verruchte", genannt wird, ihn 1016 heimtückisch ermorden. Später ging die Vogtei auf die Grafen von Ravensberg über, die zu den Nachkommen der Billunger zu gehören scheinen. Diese wiederum verzichteten 1271 zugunsten der Edelherren von Steinfurt. Nach der erst 1297 stattfindenden förmlichen Resignation wurde Balduin I. von Steinfurt, ein Schwager des Grafen Otto von Ravensburg, Stiftsvogt von Borghorst.
Die Steinfurter waren mehr als 300 Jahre lang Stiftsvögte in Borghorst und nahmen ihr Amt nicht immer nur zur Zufriedenheit der Stiftsangehörigen wahr. Oft gab es auch Grund zur Klage über den unerträglichen Druck und die Übergriffe, die die Vögte auf die Hintersassen des Stifts ausübten und die Ermahnungen des Bistums Magdeburg fanden wenig Beachtung. Allerdings dürften die Beziehungen zwischen anderen Stiften und Klöstern und ihren Vögten oft ähnlich abgelaufen sein, die Borghorster und die Steinfurter machten hier vermutlich keine große Ausnahme. Nach dem 30jährigen Krieg wurde 1648 das Erzbistum Magdeburg aufgehoben und das Stift dem Fürstbistum Münster angegliedert. Das Amt des Stiftsvogts wurde bedeutungslos, nur noch ein Titel, zumal die Steinfurter selbst ja schon im 16. Jahrhundert zum lutherischen, später zum reformierten Glauben übergetreten waren. Um den praktisch längst bestehenden Verhältnissen auch auf dem Papier Rechnung zu tragen, verzichtete Graf Ludwig 1786 offiziell auf die Vogtei.
Die Verfassung des Stifts Borghorst hielt sich an die Bestimmungen der Aachener Synode von 816 und schrieb die Regel des gemeinsamen Lebens vor. Die Stiftsdamen oder Kanonissen, die von Adel sein mußten, wohnten zwar tagsüber in ihren eigenen Häusern rings um die Stiftskirche, die Regel verpflichtete sie aber dazu, die Nächte im Dormitorium, dem gemeinsamen Schlafhaus, zu verbringen. Der Name des Dermter Teiches erinnert noch heute an dieses ehemalige Abteigebäude. Zum täglichen Chordienst, der die oberste Pflicht der Kanonissen ausmachte, trug man einfache, aber standesgemäße Kleidung von schwarzer Farbe mit einem Mantel darüber und als Kopfbedeckung ein schwarzes Häubchen mit Schleier. In der übrigen Zeit war es den Stiftsdamen erlaubt, weltliche Kleidung, ihrem Stand entsprechend auch aus kostbaren Stoffen wie Seide und Brokat, zu tragen. Beim Eintritt in den Konvent gaben die Kanonissen zwar für die Zeit ihrer Zugehörigkeit das Versprechen der Keuschheit und des Gehorsams, legten aber kein Gelübde ab wie in einem Kloster. Die ersten vier Jahre hatte eine Stiftsjungfer zwar Residenzpflicht, danach aber konnte sie bis zu drei Monaten im Jahr abwesend sein, über ihr eigenes Vermögen verfügen und bei Bedarf auch wieder ausscheiden, etwa um sich zu verheiraten.
An der Spitze des Stifts stand die Äbtissin. Sie wurde vom Stiftskapitel gewählt und vom Magdeburger Erzbischof bestätigt und geweiht. Von ihr erwartete man ein vorbildliches Leben und das Gelübde der Keuschheit und Ehelosigkeit. Ursprünglich war festgelegt worden, daß die Äbtissinnen aus der Verwandtschaft der Borghorster Grafen stammen sollten, als diese Familie jedoch ausstarb, ließ man auch andere adlige Damen für dieses Amt zu. Eine Äbtissin hatte erhebliche Machtbefugnis. Sie besaß das Archidakonatsrecht über das Stift, vergab Ämter und Benefizien und hatte die richterliche Gewalt im ganzen Stiftsbezirk inne. Diese allerdings pflegte sie weitgehend zu delegieren. In den Marken sprachen daher die sog. Burrichter Recht, in der Ostendorfer Mark war das der Schulze Marquarding, in Wilmsberg der Schulze Pröbsting und in Dumte der Schulze Dalhoff. Im inneren Stiftsbezirk sprach der Schulze Vehoff, der Verwalter des größten zum Stift gehörigen Hofes, Recht auch über die Bewohner des Wigbolds Borghorst auf dem Gerichtsplatz in der Nähe des von ihm bewohnten Hofes, dem heutigen Platz "Auf der Linde". In unmittelbaren Diensten der Äbtissin stand nicht nur der Schulze Vehoff als Verwalter des Viehbestandes des Stifts, sondern auch der Verwalter der Ländereien, der den Hof Schulze Düding, auch Drostinck genannt, bewohnte. Für Tafel und Weinkeller der Äbtissin war der Schulze Schencking - der Mundschenk - zuständig. Außerdem gab es noch einen Kämmerer, der die Kammer, d. h. die Vorräte an Leinen, Bettzeug etc. verwaltete. Gegenüber den anderen Stiftsdamen hatte die Äbtissin lediglich Residenzpflicht von drei Monaten im Jahr. Das lag auch darin begründet, daß manche Äbtissinnen gleichzeitig anderen Stiften wie Metelen oder Freckenhorst vorstanden.
Die Pröpstin nahm die zweite Stelle in der Stiftshierarchie ein und war die Stellvertreterin vor allem in Zeiten der Abwesenheit der Äbtissin. Sie wurde ebenfalls vom Kapitel gewählt und ihre Aufgabe war vor allem die Verwaltung der Stiftsgüter, also des Grundbesitzes und der Einkünfte. Der Grundbesitz des Stifts war durch Schenkung, Übereignung und Kauf zahlreich und weitgestreut und erforderte eine qualifizierte und umsichtige Verwaltung. Die Küsterin, die das dritte der offiziellen Ämter des Stifts innehatte, wurde nicht gewählt, sondern von der Äbtissin bestimmt. Sie war für die Ordnung des Gottesdienstes, die Beschaffung von Kerzen, Wein, Hostien usw. zuständig und hatte die Aufsicht über die Kleinodien und Kirchenschätze. Zum Stift gehörten insgesamt 7 Stiftskanoniker, drei waren Priesterbenefizien, die Inhaber der anderen vier mußten höhere Weihen haben. Diese vier Pfründen wurden im 14. und 15. Jahrhundert in die vier zum Stift gehörigen Vikarien umgewandelt.
In den napoleonischen Kriegen fielen die linksrheinischen Gebiete des deutschen Reiches an Frankreich und durch den sog. Reichsdeputationshauptschluß von 1803 wurden die dort betroffenen weltlichen Fürsten mit aufgehobenen Kirchen- und Stiftsgütern auf der rechten Rheinseite entschädigt. Das Stift Borghorst fiel dem Fürsten von Salm-Horstmar zu und wurde 1811 aufgelöst. Die reichen Archivalien des Stiftes wurden in die Rentkammer des Fürsten nach Coesfeld gebracht, wo sie sich noch heute befinden. Die Stiftsgebäude wurden bald darauf abgebrochen. Zuletzt mußte die Stiftskirche dem Neubau der Nikomedes-Kirche weichen (s.u.). Lediglich ein kleiner Nebenbau, die sog. "Stiftskapelle" blieb erhalten und ist heute in die neue Kirche eingegliedert.
Das Borghorster Stadtbild wird jedoch bis heute noch wesentlich durch die Siedlungsstruktur des Damenstifts Borghorst bestimmt, das von 968-1811 bestand. Sie zeichnet sich durch folgende Elemente aus:
- die innere Stiftsfreiheit mit hufeisenförmig um die Kirche angeordneten Gebäuden der Stiftsdamen, der Abtei, der Schule und angrenzenden Gärten,
- die äußere Stiftsfreiheit mit verstreut liegenden Einzelgebäuden und umgebenden mittleren bis großen Gartenflächen (ehem. Kanonikate und Vikarien),
- darin eingebettet das Dorf in nahezu geschlossener Bauweise auf eng parzellierten Grundstücken, die den Einwohnern - vor allem Weber, Handwerker, Tagelöhner - von der Äbtissin gegen Zahlung eines jährlichen sog. Wortzinses zur Verfügung gestellt wurden.